„Russengas“ für „Klein-Amerika“?
Nach langwierigen Verhandlungen mit der U.S. Army und der Bundesvermögensverwaltung kam im September 1984 ein für die Fernwärmesparte der Stadtwerke wichtiges Geschäft zustande: Der Anschluss der in Augsburgs Westen gelegenen Kasernen, Versorgungseinrichtungen und Wohnviertel der U.S. Army an das Fernwärmenetz. Es war nicht einfach, „Klein-Amerika“, wie die Amerikanerviertel auch genannt wurden, als Geschäftspartner zu gewinnen. Dagegen standen zum einen amerikanische Geschäftsinteressen, zum anderen strategische Erwägungen und nicht zuletzt emotionale Beweggründe von Seiten der Amerikaner.
Amerikaner verheizen Kohle aus Pennsylvania
Zum einen kam die Kohle für Einrichtungen der U.S. Army in Deutschland aus Bergwerken im US-Staat Pennsylvania. Auf dieses lukrative Exportgeschäft verzichtete ein amerikanischer Konzern sehr ungern. Zum anderen war bekannt, dass in Augsburg Fernwärme teilweise mit „Russengas“ erzeugt wurde. Diese Tatsache spielte eine gewichtige Rolle in den Verhandlungen. Die Amerikaner wollten in keiner Weise von Lieferungen ihres potentiellen politischen und militärischen Gegners abhängig sein. Dieses Problem konnte durch die Zusicherung der Stadtwerke, unabhängig von eventuell ausbleibenden Gaslieferungen aus Russland „Klein-Amerika“ mit Wärme zu versorgen, gelöst werden. Man würde Heizöl als Ersatzbrennstoff einsetzen. Zur Ölbevorratung wurde ein entsprechend groß dimensioniertes Tanklager vorgesehen.
„Dreckschleudern“ können stillgelegt werden
Vorrangiges Ziel war es, die überwiegend mit Kohle befeuerten Heizungsanlagen, von denen einige noch vom Ende der 1930er Jahre stammten, stillzulegen. Sie waren großteils „Dreckschleudern“. Fernwärme sollte wesentlich zur Luftverbesserung beitragen. Die Planungen sahen drei Bauabschnitte vor. Die Wärmelieferung sollte jeweils am 1. Oktober der Jahre 1987, 1989 und 1992 beginnen. Die gesamte Vertragsleistung war auf 102 Megawatt berechnet. Zur Verdeutlichung der Dimension dieses Auftrags: Die Stadtwerke hatten zu diesem Zeitpunkt eine Gesamtanschlussleistung von zirka 175 Megawatt unter Vertrag.
Fernwärme statt 23000 Tonnen Kohle
Es wurde ein gewaltiges Einsparpotential an Primärenergie ermittelt: Im Endausbau würden jährlich im neuen Versorgungsgebiet „Little Armerica” die bisher benötigten zirka 23000 Tonnen Kohle, etwa 6500 Tonnen schweres Heizöl und rund 2000 Tonnen leichtes Heizöl durch Fernwärme ersetzt. Die Grund- und Mittellast aus Kraft-Wärme-Kopplung sollte über drei große Bündelwärmetauscher mit einer Übertragungsleistung von je 18 Megawatt aus dem vorhandenen Fernwärmenetz eingespeist werden. Dadurch würde die Stromerzeugung und somit die Wirtschaftlichkeit der Fernwärmeerzeugung deutlich erhöht. Für die Spitzenlastabdeckung sowie für den Reservefall würden zwei Heißwasserkessel installiert. Die Bündelwärmetauscher, die Heißwasserkessel, die Druckhaltung sowie die erforderlichen Hilfseinrichtungen sollten in einem neuen Heizwerk, dem „Heizwerk West“, an der Flandernstraße neben einem bestehenden alten US-Heizwerk errichtet werden.
Ein separates „Amerikanernetz“
Für die Versorgung von „Klein-Amerika“ mit Fernwärme wurde ein separates „Sekundärnetz“ geplant. In den Verhandlungen mit der Standortverwaltung konnte erreicht werden, dass die Rücklauftemperaturen aus den US-Anlagen maximal 50 Grad betragen durften. Das zog beim neuen Abnehmer erhebliche Umbauarbeiten in den meist sehr alten Anlagen mit teilweise noch dezentralen Kohleeinzelfeuerungen nach sich. Die Absenkung der Rücklauftemperatur aus dem „Amerikanernetz“ bedeutete den Einstieg in eine effizientere Erzeugung, denn auch die Rücklauftemperatur des Gesamtnetzes wollte man deutlich senken. So konnte die Sparte Fernwärme nach Jahren des Schattendaseins in der Stadtwerke-Erfolgsbilanz wirtschaftlich betrieben werden.
Das hieß: Gegenüber der althergebrachten Verlegung in Haubenkanälen wurde weniger Platz benötigt, die Bauzeit, die Baukosten und die Wärmeverluste sanken deutlich. Ein weiterer großer Vorteil: Für Absperr-, Entleerungs- und Entlüftungsarmaturen müssen keine begehbaren Schächte mehr gebaut werden, da „Erdeinbauarmaturen“ direkt in die Rohrleitungstrasse eingefügt werden und die Bedienung über wesentlich kleinere, nicht mehr begehbare Schächte erfolgen kann.
Rohrleitungen unterqueren die Wertach
1986 begann die Verlegung der zirka fünf Kilometer langen Verbindungsleitung vom Heizkraftwerk in der Jakobervorstadt zu den US-Arealen. Der erste Abschnitt verläuft über die Trasse Müllerstraße, Thommstraße, Bourges-Platz, Senkelbach- und Stadtjägerstraße zum Bereich des Eisenbahntunnels an der Schlettererstraße. Mittels Düker wurden der Wertachkanal und die Wertach unterquert, entlang der Bürgermeister-Ackermann-Straße geht es zum „Heizwerk West“. Zur Druckerhöhung wurde die Pumpstation West zwischen Wertach und Wertachkanal eingefügt. 1986 ist auch das Jahr des Baubeginns beim „Heizwerk West“ (Flandernstraße 10), außerdem für die Anschlüsse der US-Liegenschaften, beginnend in der ehemaligen Flakkaserne an der Neusässer Straße.
Ab 16. September 1987 gibt es Fernwärme
Am 16. September 1987 erfolgte die erste Wärmelieferung an das Sekundärnetz in „Klein-Amerika“. Ab 28. September wurde kontinuierlich Fernwärme eingespeist. Am 2. November 1987 fand die feierliche offizielle Inbetriebnahme im „Heizwerk West“ statt. US-General Del Rosso, der Chef der „Military Community Augsburg”, die in Spitzenzeiten bis zu 30000 Soldaten und Zivilisten umfasste, würdigte in seiner Ansprache die problemlose Zusammenarbeit mit den Stadtwerken. Nach nur drei Jahren Planungs- und Bauzeit konnten die ersten Areale an die Fernwärme angeschlossen werden. Über 20 Kilometer Rohrtrassen waren verlegt, eine Pumpstation und ein Heizwerk gebaut worden. Ab 1. Oktober 1987 waren die Flakkaserne, der Einkaufsbereich für Angehörige der U.S. Army und Wohnungen im Quartermasterareal mit Fernwärme versorgt. Die Bauarbeiten im Endverteilernetz kamen entschieden schneller als geplant voran. Die Bereiche Sheridan-Nord und Fryarcircle, das Wohngebiet der hohen Offiziere auf Stadtberger Flur, konnten bereits ab 1. Oktober 1988 statt ab 1. Oktober 1989 mit Fernwärme beliefert werden.
1991: Die Amerikaner kündigen ihren Abzug an
Die amerikanischen Streitkräfte gaben 1991, nach dem ersten Golfkrieg, einen Teilabzug ihrer in Augsburg stationierten Einheiten bekannt. Betroffen davon waren als erstes die Flakkaserne und die Reesekaserne. Zu diesem Zeitpunkt waren von den Stadtwerken noch nicht alle Vertragsleistungen erbracht: Am 29. September 1992 fand die Abnahme der netztechnischen Anlagen in der Reesekaserne statt. Erst damit waren alle Netzbauarbeiten für die US Anlagen vollendet. Die politischen Entscheidungen blieben nicht ohne Auswirkungen auf die langfristigen lokalen Planungen für „Klein-Amerika“ in Augsburg. Nachdem die Abzugspläne der U.S. Army konkret waren, wurden Heizungsanlagen in Gebäuden der Reesekaserne nur noch vereinzelt an die Fernwärme angeschlossen. 1994 begann die Konversion, das heißt die Überführung militärischer Anlagen in die zivile Nutzung. Am 20. Juni 1998 fand das deutsch-amerikanische Fest „Goodbye Americans“ statt. Es war die offizielle Verabschiedung der U.S. Army. Am 14. November 1998 verließen die letzten Gis Augsburg.
Neue Rohrleitungen für zivile Nutzung
Schon vor 1998 war damit begonnen worden, das für die zivile Nutzung umgestaltete Wohngebiet in der Hoover- und Tylerstraße – ehemals „Cramerton“ – an das Fernwärmenetz anzuschließen. In der ehemaligen Flakkaserne begann 1999 die Beseitigung des an den Bedürfnissen der Amerikaner orientierten Netzes. Diesen Arbeiten folgte die Neuverlegung von Rohrleitungen nach den Bebauungsplänen für die zivile Nachnutzung. In der Werner-Heisenberg-Straße und der Neusässer Straße kamen rund 800 Meter Rohre in den Boden. Auf dieselbe Weise verfuhr man im Jahr 2000 im neuen Wohngebiet „Stadtpark West“ – es umfasst die ehemaligen US Areale „Sullivan Heights“ und „Quartermaster“.
Buchhinweis
Klimaschutz und Energiewende stellen für jedes Energieversorgungsunternehmen eine Herausforderung dar. Dabei spielt Fernwärme eine gewichtige Rolle. Die Idee, in Augsburg zentral Wärme zu erzeugen und sie in öffentliche Gebäude und Wohnungen zu transportieren, wurde bereits in den 1930er Jahren geboren. Der Zweite Weltkrieg verhinderte die Verwirklichung. Erst danach konnte das Vorhaben angegangen werden. So wurde das Jahr 1954 zum Geburtsjahr der Fernwärmeversorgung in Augsburg. In Zeiten der Energiewende sollte sich diese Entscheidung mit dem nachfolgenden massiven Ausbau der Fernwärme durch die Stadtwerke als zukunftsweisender Schritt erweisen. Das Buch „Fernwärme für Augsburg“ führt die Entwicklung der Fernwärme in Augsburg bildreich vor Augen und ist trotz des technischen Themas durch historische Streifzüge und Anekdoten gut lesbar.
Das Buch ist erhältlich in Stadtwerke-Kundencentern (Kundencenter der swa, Hoher Weg 1, 86152 Augsburg und Kundenzentrum Königsplatz), sowie im Buchhandel.
Nachtrag: Bei der Erschließung der Sheridan Kaserne an das Fernwärmenetz der Stadtwerke Augsburg spielten sich 1989 zwei kleine Episoden ab. Sie drücken auf amüsante Weise das gelegentlich nicht komplikationslose Zusammenleben zwischen der US-Armee und den deutschen Dienststellen aus: "Die zur Lagerung aufgestapelten (KMR) Kunststoffmantelrohre wurden wohl von versprengten amerikanischen "Indianern" mit Zielen für Wurfrituale verwechselt! Einige Soldaten hatten ihre Langeweile mit Wurfübungen zu vertreiben gesucht, indem sie die Erdspieße für die Rohrabsperrung in den Kunststoffmantel der Rohre warfen und leider circa 20-mal trafen. Die Beschwerde bei den Verantwortlichen auf US-Seite wurde angesichts der guten Zusammenarbeit mit einem leichten Lächeln vorgebracht. Das war auch gut so, hat doch später im Offizierswohngebiet Fryar Circle der kommandierende General von Augsburg den Stadtwerken gegenüber ebenfalls Milde walten lassen, als unsere Baufirma auf Grund einer Verwechslung seinen Keller, respektive seine Computerleitung, angebohrt hatte. Der Einsatz der Militärpolizei und der amerikanischen Sicherheitsorgane erfolgte übrigens rasend schnell und vor allem filmreif". (Zitat Ende).